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Titel
Symbolbilder des Holocaust. Fotografien der Vernichtung im sozialen Gedächtnis


Autor(en)
Schönemann, Sebastian
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Campus Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Hamann, Berlin

Befragt nach den Bildern der Shoah, äußerte Saul Friedländer in einem Interview (2012/2013), er halte es mit Raul Hilberg: Was zähle, seien die Textdokumente; der „Gebrauch von fotografischen Reproduktionen in einem Geschichtsbuch“ missfalle ihm dagegen.1 Er begründete dies damit, dass solche „wieder und wieder“ gezeigten Aufnahmen einen „Voyeurismus“ bedienten und zum Verständnis des Holocaust nichts beitrügen. Eine derartige bildabstinente Haltung kann auf die Erträge der Visual History2 sowie auf die jüngst erschienenen quellenkritischen Erschließungen von Fotosammlungen zum Holocaust verwiesen werden. All dies zeigt den Mehrwert fotohistorischer Forschungen.3

In der Dissertation Symbolbilder des Holocaust. Fotografien der Vernichtung im sozialen Gedächtnis des Soziologen und Politikwissenschaftlers Sebastian Schönemann, entstanden an der Universität Koblenz-Landau, spielen die „wieder und wieder“ gezeigten fotografischen Symbolbilder und Bildsymbole des Holocaust eine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht die Fotografie als historische Quelle, sondern ihre Funktion als Trigger für visuelles und biografisches Erinnern sowie für sinnbildendes Erzählen über Vergangenheit. Schönemann geht der Frage nach, „auf welche Art und Weise die Bilder wirken und wie wir uns über sie erinnern“ (S. 11). Seine qualitative Untersuchung von Gruppengesprächen soll „strukturelle Sinnmuster des Bildersehens und -deutens in einer Typologie fassbar […] machen“ (S. 13). Damit könnten einerseits Formen medial induzierten sozialen Erinnerns im Alltagsgedächtnis mit einem diachronen Zugriff kontrastiv-vergleichend interpretiert werden, um andererseits unterschiedliches Erinnern als eine Form sozialen Wandels deutlich machen zu können. Konzeptueller Rahmen der Studie ist die basale These der visuellen Soziologie, der zufolge Sehen und Deuten von Bildern sozial, kulturell und historisch überformt sowie durch die Mediensozialisation präformiert ist.

In Anlehnung an Karl Mannheims klassischen Aufsatz zum „Problem der Generationen“ (1928) fasst Schönemann die Gesprächsteilnehmer/innen in vier Altersgruppen zusammen, nämlich: Kriegs- und Nachkriegskinder (Geburtsjahrgänge bis 1949), Angehörige der zweiten (1950–1960), der dritten (1961–1980) und der jüngsten Generation (1981 und später). Das Durchschnittsalter der altershomogenen Gruppen zu je drei Personen variiert zwischen 24 und 71 Jahren. Zwei der sechs Gruppen sind in der DDR sozialisiert, zwei in der alten Bundesrepublik, zwei im vereinten Deutschland nach 1989/1990. Die Gesprächsteilnehmer/innen wurden gefunden durch individuelle Kontakte („Schneeballsystem“), durch Aushänge bzw. Annoncen und durch Kontakte mit Vereinen für Senior/innen. Andere Parameter als das Alter, wie Geschlecht, Bildungsstand, sozialer Status etc., spielten bei der Gruppenbildung (wie auch bei der Analyse) offenbar keine Rolle. Den visuellen Gesprächs- und Erzählanreiz bieten Bildikonen, Bildsymbole und Bildsujets des Holocaust.4 Die gemeinsame Mediensozialisation der jeweiligen Alterskohorte ist neben anderen Faktoren einerseits eine konstitutive Rahmenbedingung eines generationell-gemeinschaftlichen Erinnerns; andererseits fungieren die medialen Objekte selbst als Plattform der Aushandlung von Gemeinschaft. Durch eine verstehende Rekonstruktion und Analyse von Sequenzen aus den sechs Gruppendiskussionen ermittelt Schönemann ein generationell unterschiedlich gelagertes „visuelles Rezeptionsverhalten“ und vier diachron strukturierte Falltypen. Diese Rekonstruktion bildet das empirische Herzstück der Studie.

Die sprachlich sensible, dichte und luzide Analyse der transkribierten Sequenzen aus Gesprächen wird über die verstehend-kommentierende Paraphase des Diskussionsverlaufs dargestellt. Einbezogen in die Untersuchung werden die dialogischen Bezüge der Gruppenmitglieder untereinander, rhetorische Suchbewegungen und semantische Annäherungen, Gesprächsstil, Diskurskultur und der Grad der Interaktivität. Aber auch Sprechpausen, Wortfindungsversuche, Gesprächspartikel und Überbrückungsfloskeln werden hermeneutisch genutzt. Durch systematisch durchgeführte „Kurzüberprüfungen“ der jeweiligen „Deutungshypothese“ versucht Schönemann, dem Gebot kritischer Selbstreflexivität zu entsprechen. Schließlich mündet die Auslegung des gemeinsam generierten Sinns in der Formulierung zentraler Kategorien, auf deren Grundlage ein allgemeines Rezeptionsmuster der jeweiligen Gruppe abgeleitet wird. Schönemann gelingt es, aus den Gesprächen, die prima vista mitunter als wenig ergiebig oder gar banal erscheinen, kategoriale Falltypen freizulegen. Als ertragreich erweist sich dabei die explorative und offene Haltung des Autors.

Seine Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder (Durchschnittsalter 71 Jahre) geht auf die vorgelegten Fotografien so gut wie gar nicht ein und nutzt sie lediglich als visuellen Anreiz für Reflexionen über familiäre Kommunikationslücken. Die Angehörigen der beiden Gruppen (Ost/West) der zweiten Generation (Durchschnittsalter 61/62 Jahre) referieren weniger auf das biografische Gedächtnis, sondern stärker auf die eigene Geschichtssozialisation. Die Konfrontation mit den Bildern des Holocaust stimuliert bei der antifaschistisch sozialisierten „DDR-Gruppe“ einerseits Empathie und andererseits das Bedürfnis nach Abwendung. Dem Drang nach rationaler Kontrolle und Bändigung der überwältigenden und konfliktbehafteten Bilderfahrung wird durch die Interpretation der Bilder nachgegeben. Die Frauen der bundesdeutsch sozialisierten Gruppe reproduzieren verinnerlichte Deutungen des kollektiven Gedächtnisses und den damit verbundenen gesellschaftlichen Auftrag des Erinnerns. Interessant ist deren Ausweichbewegung ins Anthropologische: Im Mittelpunkt stehen nicht etwa benennbare Täter und ihre konkreten Taten, sondern es dominiert die Frage, „was Menschen anderen Menschen antun können“. Das „unvorstellbare ‚Grauen‘“ des Holocaust wird in dem repetitiven Bezug auf visuelle Ikonen, Symbole und Sujets kommunizierbar und ritualisiert.

Bei der jüngsten Generation (Durchschnittsalter 24 Jahre) zeigt sich schließlich eine stark bildaffine Haltung, die geprägt ist von – auch selbstreflektierten – Emotionen („Stimmungen“) und dem Bedürfnis nach einer im Bild fixierten Authentizität des einmaligen Augenblicks („Ästhetisierung“). Ein wenig bekanntes Foto aus dem Ghetto Łódź erscheint als ein „sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“5 und vermittelt die Anmutung, den generationellen Hiatus zwischen Erleben und Erinnern überbrücken zu können. Zwischen dem Hier und Jetzt sowie dem Dort und Damals „berührt“ das Bild als indexikalischer Lichtstrahl aus der Vergangenheit die Betrachter/innen heute.

In einem bilanzierenden Schritt abstrahiert Schönemann von der diachronen Ordnung der Falltypen und extrahiert eine synchron gefasste, strukturelle Typologie der ermittelten Aneignungs- und Reaktionsweisen. Diese werden motiviert durch unterschiedliche narrative „Leerstellen“ (Wolfgang Iser), kognitive Dissonanzen oder Anmutungen eines erinnernden Kontrollverlustes, welche den Interpretationsprozess der Rezipienten triggern und unterschiedlich leiten. Es sind dies die Lücken in den familiären Erinnerungen (Familie); die belastende Konfrontation mit dem Holocaust in der Jugend (Geschichtssozialisation), die Unvorstellbarkeit des Grauens und ihre Symbolisierung (kollektives Gedächtnis) sowie schließlich der generationelle Abstand des Erinnerns zum historischen Ereignis (Geschichte). Schönemanns Typologie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität – sie versteht sich vielmehr als „notwendig offen und deckt bei weitem nicht alle Formen generationeller Vergangenheitsbezüge ab“ (S. 285).

Zu Schönemanns ertragreichen Analysen hier einige ergänzende Bemerkungen, eine erste in kultur- bzw. kunstwissenschaftlicher Absicht: Bei der Auseinandersetzung mit visuellen Symbolen ist auch nach dem Verhältnis der Rezeptionsästhetik einerseits und der Bildästhetik andererseits zu fragen. Kann zum Beispiel Ästhetik auf eine (affizierende) Wirkung begrenzt werden oder ermöglicht sie über ihre visuellen Gestaltungsmittel zugleich narrative Sinnbildungen, welche auch ohne historische Kenntnisse generiert werden? Außerdem: Mit welchen visuellen Merkmalen werden kommunikative Funktionen und/oder semantische Informationen erzeugt? Schließlich: Welche bildästhetischen Eigenschaften begünstigen die Kanonisierung visueller Quellen und die symbolische Kommunikation?

Sehen und Deuten, dies bestätigen die Gespräche und Sebastian Schönemanns Analysen eindrücklich, erfolgen in biografischen, historischen, kulturellen und sozialen Kontexten. Gerade in Zusammenhängen, in denen es um professionelle Vermittlung geht, um verstehendes Lernen und Aneignung also, ist die Einbeziehung des in mehrfacher Hinsicht diversen Subjekts unabdingbar, wenn denn verstehende Kommunikation gelingen soll. Denn „letztlich ist alles Verstehen die Anwendung des Verstandenen auf uns selbst“.6 Solche Kommunikation verlangt also unweigerlich eine Subjektorientierung. Dies gilt es bei hermeneutischen Verständigungen konzeptionell mitzudenken. Bild und Blick, Sache und Subjekt – gerahmt und beeinflusst vom hermeneutischen Setting – sind immer gleichermaßen im Spiel. Eine reflexive Haltung, die den Dialog und die eigenen perspektivischen Voraussetzungen prüft und auch kommuniziert, ist dabei eine wesentliche Bedingung für Rationalitätsgewinne. Schönemanns Studie ist nicht zuletzt in diesem Sinne erhellend für eine sich ihrer selbst bewusste Kommunikation über NS-Vergangenheit und Holocaust auch in Schulen, Hochschulen, Museen und Gedenkstätten.

Anmerkungen:
1 Saul Friedländer, Erzählen, Erklären. Gespräch mit Stéphane Bou, Zürich 2019, S. 195.
2 Stellvertretend: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Jürgen Danyel / Gerhard Paul / Annette Vowinckel (Hrsg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017; und kontinuierlich mit neuen Beiträgen: https://www.visual-history.de (20.03.2020).
3 Siehe Bildungswerk Stanisław Hantz e.V. / Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hrsg.), Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020; Tal Bruttmann / Stefan Hördler / Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019; Christophe Busch / Stefan Hördler / Robert Jan van Pelt (Hrsg.), Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016.
4 Bildikonen: Foto des Torhauses von Auschwitz-Birkenau, Junge aus dem Warschauer Ghetto; Bildsymbole: gelber Stern, gestreifte Häftlingskleidung; Bildsujets: „Macht der Reihungen“, „Blicke der Macht“, „unterlegene Körper“, „sprechender Blick“ und „dramatische Momente“. Zu den Bildsujets vgl. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
5 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie [1931], in: ders. (Hrsg.), Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 45–64, hier S. 57.
6 Ein Gespräch mit Hans Georg Gadamer, in: Johannes F. Martina / Tobias Hartkemeyer, Dialogische Intelligenz. Aus dem Käfig des Gedachten in den Kosmos gemeinsamen Denkens. Mit einem Vorwort von Gerald Hüther, Frankfurt am Main 2015, 2. Aufl. 2016, S. 44.